Kein Grund zum Feiern
Am 3. Oktober wird jedes Jahr der “Tag der deutschen Einheit” begangen und dabei die sogenannte friedliche “Wiedervereinigung” der zwei deutschen Staaten gefeiert. Es ist der Nationalfeiertag einer deutschen Nation, zu deren Selbstverständnis es gehört, angeblich demokratisch, weltoffen, tolerant, humanistisch, geläutert zu sein. “Zusammen sind wir Deutschland” ist dieses Jahr das Motto. Wir feiern nicht, denn wir können dieser Erzählung nicht zustimmen.
STAAT
Stolz auf Deutschland? Nein, Danke!
Seit einigen Jahren soll es also wieder normal sein, stolz auf Deutschland zu sein. Aber wieso? Die Bundesrepublik Deutschland ist der direkte Nachfolgestaat des NS-faschistischen Deutschen Reiches. Auch wenn viele gerne einen Schlussstrich ziehen möchten, es gibt ihn nicht. Schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war vieles wieder wie davor. Die alten NS-Eliten hatten fast alle wieder ihre Positionen: In der Wirtschaft, in der Politik, an den Universitäten, in der Justiz, in der Polizei, in der Bundeswehr, in den Geheimdiensten. In einigen Bereichen konnte die 68er Bewegung etwas verändern, doch gerade bei Polizei, Geheimdiensten und Bundeswehr sind die Kontinuitäten offensichtlich. Die kapitalistische Bundesrepublik wollte nicht auf die Kompetenz im Töten, Bespitzeln und Überwachen verzichten. Und so erstaunt es auch nicht, dass der bisher schlimmste Terroranschlag in Deutschland, das Oktoberfestattentat 1980, von einem Neonazi begangen wurde. Und während der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund über Jahre hinweg Menschen in Deutschland ermordete, wurden die Täter_innen von den Inlandsgeheimdiensten geschützt, Neonazistrukturen durch diese finanziell aufgebaut und das breite, den Behörden bekannte weil durch sie bezahlte Umfeld und Netzwerk der Täter_innen verharmlost.
Geheuchelte Toleranz ? Nein, Danke!
“Für Fremdenfeindlichkeit ist hier kein Platz” sagen die SPDler_innen und bemühen sich zusammen mit den anderen Volksparteien um das Bild der demokratischen, toleranten Mitte. Doch es sind die bürgerlichen Parteien, die sich einen offenen und toleranten Anstrich geben, die Sozialleistungen demontieren, die Asylgesetzgebung verschärfen und den rassistischen Ausschluss von Menschen immer weiter vorantreiben. Wer sonst ist verantwortlich für die grausame staatliche Sparpolitik, für den Ausbau der Festung Europa, für die militärischen Operationen an den Grenzen, die immer wieder viele Menschenleben kosten?
Menschenverachtung und Neonazismus sind ein Problem der bürgerlichen Mitte. Sonst würde die staatliche Reaktion auf hunderte Tote, die der Neonazismus in Deutschland seit 1990 gefordert hat, anders aussehen. Sonst würden die Abschiebungen von Asylsuchenden aufhören.
Doch die sogenannte deutsche Demokratie sieht sich im Recht, geläutert, mit dem guten Patriotismus. Deutschland, so heißt es in der offiziellen staatlichen Erzählung, hat den NS-Faschismus überwunden. Gelernt wurde nichts. Statt “Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!” führt Deutschland seit 1998 wieder Krieg und unterstützt Diktaturen auf der ganzen Welt durch seine Waffenindustrie. Die Profite sind entscheidend, nicht Demokratie und Frieden. Im Umgang mit der zunehmenden Diktatur in der Türkei und Ungarn wird die Heuchelei deutlich. Schöne Worte finden sich immer, doch Menschenrechte, vor allem die von Menschen außerhalb Deutschlands, spielen in der nationalen Politik keine echte Rolle.
NATION
Ein Blick in die Vergangenheit …
Die Nation ist ein machtpolitisches Konstrukt. Sie hat eine Geschichte. Diese geht aus militärischer Unterdrückung, der gewaltsamen Unterwerfung von Menschen unter den Nationalstaat, kolonialer Ausbeutung, der Macht von Regierenden, Kriegen und Hegemonien hervor.
Die Erfindung einer deutschen Nation zeigt dies sehr gut. Anfang des 19. Jahrhunderts entstand der Gedanke einer gemeinsamen deutschen Identität. Das Gebiet, das heutzutage “Deutschland” ist, bestand aus vielen verschiedenen Gebieten kirchlicher und weltlicher Fürsten. Es gab bis dahin keine gebietsübergreifende Identität. Diese wurde geschaffen, indem trivialen Realitäten wie (relativ) gemeinsame Sprache oder ähnliche Traditionen einen besonders hohen Wert zugemessen wurden. In den folgenden Jahrzehnten wurde diese Erzählung aktiv ausgebaut, es wurden gemeinsame Werte erfunden und gemeinsame Geschichte herbeigeschrieben. Geschichte wurde und wird immer noch nachträglich auf das Ziel einer “Deutschen Nation” hin gedeutet.
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich wegen der aufkommenden Industrialisierung und der damit einhergehenden Entwicklung des Kapitalismus ein einheitliches Staatsgebiet mit einer einheitlichen (ideologischen) Führung. Dieser Staat wurde durch die Einigungskriege (in den Jahren 1864,1866 und 1870/71) hergestellt.
Zwei Dinge verdienen dabei besondere Aufmerksamkeit: Seit es sie gibt (bzw. schon auf dem Weg dorthin) war die deutsche Nation ein undemokratisches, von oben herab mit Gewalt durchgesetztes Elitenprojekt (siehe z.B. die Niederschlagung der Revolution 1848/49). Die behauptete Klarheit und Natürlichkeit der deutschen Nation war vor der kriegerischen Gründung des Deutschen Reiches 1871 nicht so klar. Davor musste bspw. Österreich mit dem Krieg 1866 aus dem Deutschen Bund verdrängt und als nicht deutsch markiert werden. Es gab kein “Deutschland” oder “die Deutschen”. Sie wurden erfunden. Die deutsche Nation wurde aus machtpolitischen Gründen geschaffen um Menschen hinter einer Führung versammeln zu können.
Im Namen dieser frisch erschaffenen Nation nahm das Deutsche Reich am Verbrechen des Kolonialismus teil, wurde die Gesellschaft militarisiert, wurde der Erste Weltkrieg angefangen und nahm das Verbrechen des NS-Faschismus und des Zweiten Weltkrieges seinen Lauf. Und nun wird jedes Jahr am 3. Oktober diese Nation, die so viel Scheiße gebaut hat, gefeiert. Ein Blick in die Vergangenheit offenbart, wie wenig feierlich das ist.
… und in die Gegenwart
Sich mit der deutschen Nationalität zu identifizieren, heißt sich positiv auf diese Vergangenheit zu beziehen. Es heißt auch die vergangene Unterwerfung von jenen zu akzeptieren und zu reproduzieren, die als Andere, Minderwertige und auf Grund ihrer Herkunft als nicht-Zugehörige konstruiert wurden. In der Gegenwart heißt eine positive Selbstidentifikation mit einer deutschen nationalen Identität auch Grenzen zu ziehen zwischen Deutschen und nicht-Deutschen.
Der “gesunde Patriotismus” will das deutsche Nationalgefühl seit dem Mauerfall wieder salonfähig machen. Die Nation und vor allem die gefährdete Nation wurde wieder als Gemeinschaftsphantasie angeboten. Ein Beispiel hierfür ist die “Leitkulturdebatte” vom Ende der 1990er Jahre in Zusammenhang mit Einwanderung. Spätestens seit 2001 durfte mensch wieder “stolz [sein], ein Deutscher zu sein” (CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer). “Du bist Deutschland!” tönte die bis dahin in der BRD größte Social Marketing Kampagne 2006. Das deutsche Nationalgefühl war erfolgreich gefördert worden. Es fiel sofort auf den fruchtbaren Boden der Ausgrenzung, genährt aus der Mitte der Gesellschaft. Ein Beleg dafür ist nicht zuletzt der Erfolg des menschenverachtenden Buches des SPDlers Thilo Sarrazin.
Neonazistische und rechte Gruppierungen erstarken in Deutschland. People of Colour, besonders Geflüchtete werden täglich angegriffen. Die Justiz ermittelt nur in den seltensten Fällen. Die AfD hat bei Landtagswahlen zweistellige Wahlergebnisse.
Der neue “gesunde Patriotismus” geht nicht nur Hand in Hand mit Nationalismus, er hat das gefährliche Potential von rassistischen Misständen und sozialen Problemen abzulenken.
Ein positiver Bezug auf die Nation, nach Art eines wie auch immer gearteten Patriotismus fördert die Bereitschaft die jetzige Gesellschaftsform in Gänze zu akzeptieren. Er ist das beste Mittel um sich der menschenfeindlichen Realität von heute anzupassen. Wer Ja sagt zu Nationen, sagt auch Ja zur Klassengesellschaft, zum Kapitalismus, zu vielen tausend Toten an den Grenzen, zu Kriegen zwischen verfeindeten Nationen und Ja zu einer Gesellschaftsform, in der nur leben kann, wer das Glück hat, der ständigen Vermehrung von Kapital nützlich zu sein.
Auch ein “inklusiver Patriotismus” ist nicht die Lösung. Im Jahr 2016 haben 21 Prozent aller in Deutschland lebenden Menschen einen Migrationshintergrund. Auch der Patriotismus passt sich an. Er wird durch ein bisschen mehr Diversity upgedated. Diversity Management findet sich in fast jedem wirtschaftlichen Projekt und seiner Vermarktung. So findet der Diversity-Anstrich sich auch auf den diesjährigen nationalen Feiern am 3. Oktober in Mainz. Menschen unterschiedlicher Herkunft dürfen Deutschland seit neuestem auch mitvermarkten. Dahinter steckt die Vorstellung, dass Probleme kaschiert werden können, wenn nur ein bisschen mehr Vielfalt draufgeklebt wird.
KAPITAL
Wer vom Erfolg der deutschen Wirtschaft spricht, soll nicht über kapitalistische Ausbeutung schweigen
Wenn mensch sich als deutsch identifiziert (zum Beispiel in dem Deutschland und die eigene Zugehörigkeit zu Deutschland gefeiert wird), bedeutet es auch, dass mensch sich auf etwas bezieht, das nicht-deutsch ist (von dem das Deutsch-Sein abgegrenzt werden muss um überhaupt erst als solches gefeiert werden zu können). Dabei entsteht immer das Andere – etwas, das also nicht gefeiert wird und als Gegenpol zu einer positiven Selbstbezeichnung konstruiert werden muss. Nationale Identitäten basieren auf einem Exklusionsmechanismus, der auf Grund des Merkmals der Herkunft der “Anderen”, der Nicht-Deutschen, diesen bestimmte Eigenschaften zuschreibt oder nicht zuschreibt und ihnen auf der Zugehörigkeit zur deutschen Nation basierende Rechte aberkennt (vom deutschen Nationalstaat geschützt und versorgt zu werden oder sich auf seinem Territorium aufhalten zu dürfen). Nationale Identitäten sind die ideologische Basis der Festung Europa, der Abschiebungen, der Xenophobie, des Rassismus und des Antisemitismus. Sie kleistern zu, dass die wirklichen Grenzen zwischen der Klasse der Lohnabhängigen und der die Produktionsmittel besitzenden Klasse verlaufen.
Es bleibt also nur die Frage, wer ausgeschlossen wird, nicht ob. Manche sehen nur Menschen mit einer biodeutschen Ahnenreihe als Teil von Deutschland an, andere auch all jene, die sich gut an die deutsche Leitkultur anpassen und sich in den Arbeitsmarkt integrieren lassen. Teil von Deutschland sein, das darf nur, wer als neoliberales Subjekt verwertbar ist. Kapitalismus, Staat und Nation geben sich bei der Ausführung von Unterdrückung, Abschottung und Ausbeutung die Hand und bestimmen über den Wert eines Menschen. Wer vom Erfolg der deutschen Wirtschaft, also des deutschen Kapitals, spricht, darf von der Ausbeutung anderer Länder und den kapitalistischen Handelsstrukturen nicht schweigen.
Staat-Nation-Kapital: Scheiße!
Das Motto “Zusammen sind wir Deutschland” ist eine modernisierte Version der Propaganda-Kampagne “Du bist Deutschland” aus dem Jahr 2006. Aus dem Fernsehwerbespot geht klar hervor, um was es geht: Die Menschen sollen sich mit dem nationalen Kollektiv identifizieren, für das Kollektiv Verzicht üben und ihre eigenen Interessen hinten anstellen. Als übergeordnetes Ziel der »Volksgemeinschaft« wird der Erfolg des deutschen Kapitals gesehen. Wenn es ihr gut geht, geht es angeblich allen gut.
Diese Erzählung verschleiert ganz bewusst die soziale Ungleichheit in Deutschland, die durch die Politik immer mehr verstärkt wird. Die Interessen einer profitorientierten Wirtschaft werden als die Interessen der Bevölkerung dargestellt. Alle Menschen seien gleich. Dabei sorgt die derzeitige Wirtschafts-, Gesellschafts- und politische Ordnung dafür, dass genau das nicht der Fall ist. Das Prinzip ist das gleiche wie früher: Du bist nichts, die Volksgemeinschaft ist alles. Egal wie schlecht es dir geht, du kannst stolz sein auf deine Nation.
Da helfen auch keine vorgeschobenen humanistischen Traditionen Deutschlands oder gar der Europäischen Union. Deutschland ist Teil der EU, die als Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde und heutzutage große Anstrengungen unternimmt, ihren Wohlstand zu verteidigen. Den Wohlstand, den es nur aufgrund des Kolonialismus und einer ungerechten Wirtschaftsordnung gibt. Und so enden die viel gerühmten europäischen Traditionen und die Menschenrechte an dem Stacheldraht der Außengrenzen, im Massengrab im Mittelmeer oder in den Abschiebelagern der kapitalistischen europäischen Peripherie.
SCHEISSE
Zusammenkommen – ohne Deutschland
Deutschland zu feiern, heißt Deutschland als Erfolgsgeschichte zu beschreiben. Doch das ist es keineswegs. Die sogenannte starke Wirtschaft und die Leistungsgesellschaft sowie die deutsche Geschichte produzieren stets Ausgegrenzte, Entrechtete und entmächtigte Subjekte, produzieren auch Ungerechtigkeit, soziale Ungleichheit und Armut. Doch das gehört nicht zur deutschen Erfolgsgeschichte, gehört nicht zu dem was am 3. Oktober gefeiert wird. Menschen, die nicht Teil eines erfolgreichen und konkurrenzorientierten Deutschland sind, fehlen auf den Marketingbildern des nationalen Taumels. Wer Deutschland feiert, macht alles was in Deutschland passiert und nicht gerade feierlich ist erstmal unsichtbar.
Alternative und ermächtigende Selbstdefinitionen finden sich außerhalb von nationalen Identitäten. Sie finden sich dort, wo Menschen sich keine Grenzen setzen um zusammenzukommen. Behörden wie zum Beispiel Jobcenter oder Einwohnermeldeamt, Arbeit, Wohnungsmarkt, Ausbildung, Bewegungsfreiheit, Kulturindustrie, politische Meinungsbildung – kaum ein Lebensbereich wo die deutsche kapitalistische Gesellschaft, nationale Politik oder staatliche Kontrolle nicht über uns bestimmt. Sich Inseln in der Scheiße zu erkämpfen hat nichts mit Deutschland oder deutsch-sein zu tun. Im Gegenteil: Freiräume und grenzenlos solidarisches Miteinander können nur ohne Deutschland und gegen Deutschland Wirklichkeit werden.
Inseln in der Scheiße
Die Nationalfeierlichkeiten abzulehnen, heißt eine Erzählung abzulehnen, welche Deutschland als erfolgreiches, geläutertes und (moralisch) überlegenes Identifikationsobjekt für die Massen abbildet. Diese Erzählung ist gemacht um von Misständen abzulenken und diese zu legitimieren. Staat, Nation und Kapital sind Herrschaftsformen. Sie produzieren haufenweise Elend, besonders wenn sie ineinander verschränkt sind.
Und diese beschissenen Verhältnisse sollen bei den Einheitsfeierlichkeiten als gut, als feierlich, als geschichtsträchtig vermarktet werden. Die Nationalfeierlichkeiten abzulehnen heißt sich antikapitalistisch und antinational zu positionieren, heißt gegen Herrschaft und Unterdrückung ankämpfen zu wollen.
Zwischen Staat, Nation und Kapital gibt es auch Inseln in der Scheiße: antifaschistisches Engagement, Solidarität mit Migrant_innen, selbstverwaltete Freiräume und noch einiges Anderes. Diese Inseln sind von der heuchlerischen Erzählung von einem erfolgreichen, weltoffenen, geläuterten, geschichtsbewussten, einflussreichen Deutschland bedroht. Sie müssen immer wieder erkämpft werden. Genau diese Inseln in der Scheiße wollen wir mit unserem Protest gegen die Nationalfeierlichkeiten am 3. Oktober in Mainz stark machen. Dabei wird es sicher viele unterschiedliche und kreative Möglichkeiten geben, die Erzählung zu stören und Alternativen aufzuzeigen.